Segelfliegen, das wurde an anderer Stelle bereits erwähnt, ist ein nicht ganz ungefährlicher Sport. Die leider bisweilen zu beobachtenden Unfälle sind dabei selten allein auf technische Mängel zurückzuführen. Meist ist es eine Verkettung mehrerer Ursachen, die zu fatalen Ergebnissen führt.

 

Ein konstruiertes Beispiel, aber nicht völlig aus der Luft gegriffen

Beim Windenstart reißt kurz nach dem Abheben die Sollbruchstelle des Seiles. Der Pilot drückt nach und versucht eine Umkehrkurve zurück zum Platz zu fliegen. In der Kurve reißt offensichtlich die Strömung ab und das Flugzeug kommt unsanft zu Boden (um es mal so zu formulieren). Eigentlich ein klarer Fall, könnte man meinen. Aber was war wirklich passiert?

Da die Saison noch jung war, hatte der Pilot gerade den obligatorischen Überprüfungsstart zur Zufriedenheit des Fluglehrers hinter sich gebracht. Da er sich dennoch nicht ganz sicher fühlte, hatte er darum gebeten, weitere Übungsflüge mit Fluglehrer durchzuführen, was ihm aber im Hinblick auf die weiteren Verpflichtungen der Fluglehrer zunächst verwehrt wurde. Schließlich entschloss er sich, doch alleine zu starten. Beim Einklinken hatte ein Vereinskamerad - unbemerkt vom Piloten - versehentlich eine zu schwache Sollbruchstelle gewählt. Eigentlich wollte der Pilot sich nach dem Einklinken noch rasch seine Sonnenbrille aufsetzen, da wurde bereits ohne auf sein Daumen-Heben zu warten die Fläche zum Start angehoben. Der Pilot rief durch das sich links in der Haube befindliche Seitenfenster, dass er noch nicht bereit sei. Leider hatte der Fliegerkamerad überraschenderweise die rechte Fläche angehoben und konnte so den Piloten nicht hören. Immerhin hatte der Starthelfer den Arm noch nicht gehoben, so dass damit zu rechnen war, dass bis zum Start noch einige Sekunden vergehen würden. Etwas überraschend straffte sich das Schleppseil kurz darauf dennoch und der Start begann. Fehlende Übung und das Überraschungsmoment bedingten einen etwas steileren Start, der schließlich in Verbindung mit der falschen Sollbruchstelle zu deren Riss führte. Durch den leichten Rückenwind verlor das Flugzeug beim Nachdrücken und Fahrtaufholen ungewöhnlich viel Höhe. Obwohl die nun verbleibende Höhe das Gelingen einer Umkehrkurve eher unwahrscheinlich erscheinen ließ, scheute sich der Führer des Segelflugzeuges, geradeaus zu landen, da es in seinem Verein aus Gründen der Platzlänge nie trainiert worden war. Beim Einleiten der ersten Kurve drehte der Pilot das Flugzeug in den Wind, so dass er bei der Umkehrkurve leeseitig über den Platz hinaus verblasen wurde. Als der Pilot merkte, dass sein Flugmanöver ihn nicht mit „normalen“ Fluglagen zum Platz bringen würde, vergrößerte er die Schräglage. Gleichzeitig erhöhte er zunehmend den Anstellwinkel, da der Boden bedrohlich näher kam. Dies führte zu Verringerung der Fahrt und schließlich zum Strömungsabriss.

 

Die Fehlerkette

Bei der ausführlichen Beschreibung des Unfallhergangs tritt die Fehlerkette deutlich zu Tage:

  • Nicht genügend Übungsstarts nach längerer Flugpause
  • Alleinflug trotz selbst erkannter Unsicherheit
  • Falsche Sollbruchstelle
  • Anheben der Fläche ohne Freizeichen des Piloten
  • Starthelfer steht an der rechten Fläche
  • Auslösen des Starts trotz nicht gehobenen Armes des Flächenmanns
  • Flugbetrieb bei Rückenwind
  • Kein Training für die Geradeauslandung nach Seilriss
  • Entscheidung für Umkehrkurve trotz zu niedriger Höhe
  • Falsches Ansetzen der Umkehrkurve

Letztlich war es der Pilot, der mit dem versuchten Erzwingen der Umkehrkurve den letzten, fatalen Fehler gemacht hat. Man sieht jedoch deutlich an diesem Beispiel, dass der Unfall nicht passiert wäre, wenn nicht im Vorfeld viele – auch kleine – Unsauberkeiten, Ungenauigkeiten, Nachlässigkeiten, Fehler sich aneinandergereiht hätten. Wäre nur ein Glied dieser Kette gerissen, wäre der Unfall vermutlich nicht passiert.

 

Die Kommunikation der „Kleinigkeiten“

Nun, der Unfallhergang ist frei erfunden, doch nah an der Realität konstruiert. So oder ähnlich könnte der nächste Unfall aussehen. Denn – Hand aufs Herz: Wer hat nicht bereits den einen oder anderen Punkt dieser Fehlerkette gesehen, verursacht oder erlebt? Getreu dem (englischsprachigen) Motto: „Everybody has seen a part of someone else’s accident“ sind es eben oft nur Kleinigkeiten, die einen Unfall verhindern oder begünstigen können. Deshalb ist es wichtig, neben den fliegerischen Fähigkeiten der Piloten und dem technisch einwandfreien Zustand der Flugzeuge möglichst vielen dieser Kleinigkeiten Beachtung zu schenken. Das ist natürlich nur dann möglich, wenn diese auch als potentielle Gefahrenquelle von allen Beteiligten erkannt werden. Das wiederum setzt voraus, dass erkannte Fehler kommuniziert werden.

 

Vom fehlerhaften Umgang mit Fehlern

Damit sind wir beim eigentlichen Anliegen dieses Artikels: Wie gehen wir mit Fehlern um? Fehler, die wir selbst gemacht haben, Fehler, die wir bei anderen gesehen haben, Gefahrenquellen, welche wir erkannt haben?

Wer einen Fehler macht, verfällt gerne in eines der typischen Verhaltensmuster:

  • Schuldzuweisung:
    Schuld am Fehler ist eigentlich jemand anderes! Auch sehr beliebt: „Es liegt am System“, ich hätte gar nicht anders handeln können.
  • Leugnen des Fehlers:
    „Es war ja gar nicht so schlimm“
  • Schweigen:
    „Das braucht niemand zu wissen!“
  • Hinbiegen:
    Der Fehler ist passiert, aber durch erneutes regelwidriges Verhalten kann ich die ungewollten Auswirkungen begrenzen bzw. verhindern.

All diesen Verhaltensmustern ist eines gemeinsam: Der Fehler wird vertuscht. Für den Betreffenden mag sich aus dem jeweiligen Vorfall noch einen gewisser Lerneffekt ergeben, alle anderen müssen den Fehler erst selber machen, vielleicht mit fatalen Folgen. Vom Standpunkt der Sicherheit aus bringt Leugnen, Schweigen oder Hinbiegen des Fehlers niemanden weiter.

 

Ursachen

Was hindert uns eigentlich oft daran, offen mit Fehlern umzugehen? Wenn eigene Fehler von anderen bemerkt werden, kann das unangenehme Folgen haben. In gravierenden Fällen drohen vereinsinterne oder gar behördliche Strafen wie Startverbot oder Lizenzverlust. Daneben ist es einfach unangenehm, wenn alle erfahren, dass man nicht perfekt ist. Nach 2 Jahren im Flugbetrieb die falsche Sollbruchstelle benutzt? Besser Schweigen! Nach 400 Starts beim Seilriss in die falsche Richtung gekurvt und schließlich etwas tief? Hinbiegen!

Als kleine Kinder haben wir bereits gelernt, dass Fehlverhalten Strafen hervorruft. Was bei der Erziehung noch als adäquates Mittel erscheint, hilft bei erwachsenen Menschen, die sich in einem gefahrgeneigten Umfeld bewegen, allerdings nicht weiter. Hier ist davon auszugehen, dass jeder schon aus ureigenem Interesse daran interessiert ist, dass sich möglichst wenig Fehler ereignen und sein Handeln entsprechend darauf einstellt.

 

Wer macht Fehler?

Eins ist sicher: Jeder, JEDER, vom neuen Flugschüler bis zum fähigsten Fluglehrer hat (nicht nur) im täglichen Flugbetrieb ungewollt Dinge getan oder unterlassen, die – nett gesagt - nicht optimal im Sinne der Sicherheit waren. Und jedem, JEDEM wird das wieder passieren. Insofern ist keiner mit seinen Fehlern allein. Gesetzt den Fall, alle diese Fehler würden von anderen bemerkt und mit den befürchteten Sanktionen belegt werden, dann würde es dank der erteilten Startverbote bald sehr ruhig werden auf dem Flugplatz. Immerhin hätten in diesem Fall andere von den Fehlern der Vereinskameraden gehört. Das würde sie in die Lage versetzen, die gleichen Fehler gegebenenfalls zu vermeiden. Aber so weit kommt es ja gar nicht, da wir aus Angst vor Sanktionen und Gesichtsverlust lieber schweigen, hinbiegen, leugnen...

 

Der „gute“ Fehler

Es ist eigentlich so einfach: Fehlervermeidung ist ein Ziel, welches nie ganz zu erreichen sein wird. Es wird wieder passieren! Machen wir das Beste daraus!

  • Durch Selbstreflexion: Wieso habe ich so agiert, wie ich agiert habe? Welche Optionen hätte ich noch gehabt? Wie hätte ich besser gehandelt?
  • Durch das Selbsteingeständnis, einen Fehler gemacht zu haben! Ja: Mein Fehler. Ist mir passiert. Ich hätte anders handeln können, habe es aber leider falsch gemacht!

    Und schließlich...
  • ... dadurch, dass wir andere von unseren Fehlern lernen lassen! Denn vielleicht haben andere das Problem bislang nicht erkannt. Wäre es da nicht sinnvoll, sein Wissen weiterzugeben? Wenn wir durch die Weitergabe unserer Erfahrung eines Tages die Fehlerkette eines Fliegerkameraden unterbrechen helfen, dann hätte unser Fehler sogar etwas Gutes gehabt!


Geständnisfreudiges Umfeld

Gerade dieser letzte Punkt ist – wir haben es bereits gesehen – ist nicht immer ganz einfach umzusetzen. Insbesondere dann, wenn der betroffene Flugzeugführer mit dieser Tätigkeit seinen Lebensunterhalt verdient, ist die Neigung eher gering, durch Zugeben eines Fehlers seine Existenz aus Spiel zu setzen. Dabei sind gerade im Bereich der kommerziellen Luftfahrt Verbesserungen der Flugsicherheit geboten und „share your experience“ könnte, wie oben dargelegt, ein wichtiger Baustein dazu sein.

Bei der Deutschen Lufthansa (wie auch bei anderen Fluggesellschaften) wurde deshalb ein System etabliert, welches den betroffenen Kollegen aus dem Cockpit (und übrigens auch aus der Kabine) die Möglichkeit gibt, anonym über ihre Vorfälle und Fehler - die selbstverständlich auch hier vorkommen! - zu berichten. Die entsprechenden Formblätter sind überall leicht zugänglich und können unverfänglich mit der Dienstpost an die bearbeitende Stelle versandt werden. Die Berichte werden gesammelt und ausgewertet, und gelegentlich werden dadurch Veränderungen bestehender Verfahren auf den Weg gebracht, die andere Piloten vor Wiederholung bereits erkannter Fehler bewahren sollen. Zusätzlich erscheinen in regelmäßigen Abständen interne Informationen, in denen Vorfälle innerhalb und außerhalb des Konzerns analysiert werden.

Die Mitarbeiter der Meldestelle bitten übrigens ausdrücklich darum, die Berichte nicht anonym abzugeben, damit Nachfragen zum Hergang des Geschehens möglich sind. Sie garantieren im Gegenzug, dass keiner dieser Namen nach außen dringt, weshalb sie in einem streng abgetrennten Bereich sitzen, der die Unterlagen vor neugierigen Blicken Unbefugter schützt. Die Piloten können also – anonym oder unter Nennung ihres Namens – über ihre Fehler berichten, ohne Sanktionen oder Strafen befürchten zu müssen. Dieses „non-punitive“ [punire (lat.) – strafen] Verfahren ist so erfolgreich, dass mittlerweile in anderen Berufsgruppen, bei denen Fehler fatale Folgen haben können, über die Einführung nachgedacht wird. So könnten vielleicht im medizinischen Bereich künftig einige der sogenannten Kunstfehler vermieden werden, wenn Ärzte ihre Behandlungsfehler ohne Angst vor Strafe melden könnten (statt sie zu vertuschen), auf dass Verbesserungen der Diagnose- und Behandlungsmethoden sowie Lerneffekte bei ihren Kollegen möglich wären.

 

Der Umgang mit Fehlern im Segelflugverein

Der Gedanke liegt nahe, entsprechende Verfahren auch bei der Sportfliegerei zur Anwendung zu bringen. Sicherlich ist das System einer großen Fluggesellschaft nicht direkt auf einen kleinen Verein übertragbar, aber es wäre sicherlich keine schlechte Idee, die Grundgedanken des non-punitiven „share your experience“ aufzunehmen und im Rahmen der Möglichkeiten umzusetzen.

Darüber hinaus sollte in jedem Verein darauf hingewirkt werden, dass eine offene Atmosphäre in Bezug auf Fehler existiert. Es ist keinesfalls peinlich, Fehler zuzugeben, denn (um es noch einmal zu sagen): Jeder macht Fehler! Im übrigen sollte es auch selbstverständlich sein, andere in angemessener Weise auf erkanntes oder auch nur vermeintliches Fehlverhalten hinzuweisen. Natürlich sollten hier nicht permanent die „Besserwisser“ alle anderen Teilnehmer am Flugbetrieb nerven! Aber bei geeignetem Tonfall sollten die Angesprochenen in der Lage sein, die Anregung oder auch die Kritik des Fliegerkameraden anzunehmen, um gemeinsam Verbesserungen anzustreben. Auch hier ist der Verein gefordert, für ein entsprechendes Klima zu sorgen.

Um das eingangs konstruierte Beispiel wieder aufzunehmen: Hätte nur früher einmal jemand zugegeben, die falsche Sollbruchstelle verwendet zu haben! Denn vorgekommen war das garantiert mehr als einmal. Hätte das nur früher jemand aufgenommen und sich Gedanken um eine Verbesserung des bis dahin üblichen Verfahrens gemacht. Die Fehlerkette wäre gerissen und der Unfall hätte nie stattgefunden.

 

Zusammenfassung

Ein vernünftiges Fehlermanagement kann entscheidend zur Erhöhung der Sicherheit im Flugbetrieb beitragen. Voraussetzung dafür ist eine breite Informationsbasis, die sich wesentlich aus den Erfahrungen der Beteiligten speist. Da aus dargelegten Gründen die Hemmschwelle groß ist, über eigene Fehler zu berichten, sollten in den einzelnen Vereinen Verfahren und ein entsprechendes Klima zur Herabsetzung dieser Hürde etabliert werden. Die Flugbetriebe großer Fluggesellschaften bieten Beispiele für den sinnvollen Umgang mit Fehlern, an die angeknüpft werden könnte. Denn sicher ist eins: Der nächste Fehler kommt bestimmt!

 

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