Sollfahrttheorie - Das epische Thema bei den Segelfliegern ...

Aus der Sollfahrttheorie ergeben sich Vorgaben für die Wahl der Gleitgeschwindigkeit. Das wirst du schon wissen. Aber wenn du noch am Anfang deiner Leistungsflugkarriere stehst, ist es nicht notwendig, dass du dieses Thema vollständig beherrschst und "beten" und taktisch umsetzen kannst. Anfänglich ist es für dich ein handwerkliches Thema: die Wahl der Fluggeschwindigkeit.

Später, wenn du beginnst, kompliziertere Situationen zu beherrschen, wirst du verstehen, dass dir die Theorie einen weiten Rahmen aufspannt, in dem du deine Geschwindigkeit taktisch wählen kannst. Und du wirst verstehen, welche Konsequenzen deine Wahl haben wird.

Zuerst musst du verstehen, dass alle in Veröffentlichungen vorgestellten Sollfahrttheorien - beispielhaft nehmen wir Reichmanns "Streckensegelflug" in seiner jüngsten Auflage als Bezugspunkt - auf Annahmen und Modellvorstellungen beruhen. Eine davon, die meistens, aber nicht notwendig immer, bemüht wird, ist die Kontinuitätsbedingung.

Andere Modellvorstellungen und Annahmen beschreiben, wie ein Thermikschlauch, ein "Bart" aufgebaut ist: Ob er an seinen Grenzen sprunghaft beginnt und auf den vollen Steigenwert springt oder ob das Steigen graduell vom Rand in die Mitte steigt und in welchem Maße es steigt.

Wesentlich ist, dass du verstehst: Alle diese Sollfahrttheorien basieren auf Annahmen. Und wenn beim richtigen Fliegen diese Annahmen nicht zutreffen - und das ist oft der Fall -, dann gelten auch die Theorien nicht.

Für einen Piloten ist das natürlich unbefriedigend. Und deshalb wurde die Theorie über die Jahre hinweg (vom 2. Weltkrieg bis heute) ständig weiterentwickelt mit dem Ziel, die Annahmen immer "schwächer" zu machen (aufzuweichen), so dass die dann abgeleitete Theorie immer universeller und robuster anwendbar wird.

 

Grundsätzlich werden in der grundlegenden Sollfahrttheorie zwei Problemfälle unterschieden:

Der erste Fall kann vereinfacht als der normale Überlandflug angesehen werden. Der zweite Fall beschreibt den Endanflug.

Leider ist die reale Welt nicht so holzschnittartig klar gegliedert. Du wirst auf dieser WebSite und in den Büchern (z.B. bei Brigliadori) viele Stellen finden, an denen die hier skizzierten Grenzen zwischen den Optimierungsfällen aufgeweicht werden. Dann wird es unübersichtlich, aber diese Überlegungen beginnen sicher erst dann dein Handeln zu beeinflussen, wenn du reichlich Erfahrung gewonnen hast (.. beim Deutschlandrundflug).

 

Beginnen wir unseren Streifzug durch die Theorie mit den einfachen Fällen:

Wenn alle Bärte gleich stark sind, wenn sie alle vom Boden bis zur Basis immer gleich stark sind, wenn sie alle einem Abstand voneinander stehen, der durch einen Gleitflug mit dem von dir gewählten Flugzeug zu überbrücken ist, dann gilt die alte Sollfahrttheorie, so wie sie während des zweiten Weltkriegs von Späth und später von MacCready und anderen formuliert wurde : Der bestimmende Parameter ist das Steigen des Bartes unter der Annahme, dass das im nächsten Bart wieder genauso gut sein wird.  Daraus ergeben sich mit der Geschwindigkeitspolare (Flächenbelastung und Luftdichte berücksichtigt) für deine Maschine eine optimale Vorfluggeschwindigkeit und eine Schnittgeschwindigkeit.

Dabei haben wir jetzt auch noch sündhaft angenommen, dass es dich keine Zeit kostet, den neuen Bart zu zentrieren.

Irgendwann in den Fünfzigern (René Compte und andere) wurde klar, dass die Zentrierzeit mit in die Optimierung eingehen muss. Wir müssen also die Optimierung auf das "mittlere Steigen" beziehen, das wir im nächsten Bart erwarten. Da Hellsichtigkeit auch bei Segelfliegern eher selten als menschliche Eigenschaft vertreten ist, kann man sich nur auf das schon Erlebte verlassen, also auf das mittlere Steigen des letzten Bartes. Und dann nimmt man an, dass das im nächsten Bart genau so sein wird. Wir haben also ein Element des Risikos, das in die Theorie bisher nicht eingeht. Ich komme später darauf zurück.

Mit einem kleinen bisschen Nachdenken wird klar, das du unter diesen Umständen durch deine eigene Fliegerei in einem engen Rahmen Einfluss auf das mittlere Steigen hast: Wenn du lange an einem Stück kurbelst (Bart von unten bis oben gleich), verteilst du die verschwendete Zeit beim Zentrieren auf eine lange Steigzeit. Der Verlust wiegt demnach weniger schwer und dein mittleres Steigen wird sich dem maximal möglichen Steigen annähern. Wenn du jeden Bart annimmst und jedesmal zentrierst, verlierst du relativ mehr Zeit aufs Zentrieren und deine Werte des erflogenen mittleren Steigens werden kleiner. Hier ist die Übung dazu.

Flugtaktische Konsequenz: Möglichst selten kurbeln. Unter den gegebenen Bedingungen würde das bedeuten, du fliegst aus großer Höhe runter bis fast auf den Boden und nimmst dort den letzten Bart vor der Landung mit (Annahme: Bart vom Boden bis zur Basis gleich).

Versuch das mal konsequent. Dein Flug wird bald zu Ende sein. Das heißt, die Theorie ist zu schwach, um dir immer die richtigen Entscheidungen zu verraten.

 

In den Sechzigern und Siebzigern wurden die Thermikmodelle verfeinert.

Die Forderung nach einem gleichmäßigen Bart von unten nach oben wurde aufgegeben. Jetzt wurde angenommen, eher der Wirklichkeit entsprechend, dass Bärte unten erst schwach sind, dann nach oben stärker werden und, eventuell, oben auch wieder schwächer werden.

Die Forderung nach einer Gleichverteilung von Bärten gleicher Stärke über die Landschaft wurde aufgegeben, zugunsten der wirklichkeitstreueren Annahme, dass es ein Meer von verschieden starken und schwachen Bärten gibt, auch einige wenige sehr starke - in sich alle wieder gleichverteilt.

Das war ungefähr der Modellstand, als Helmut Reichmann seine Dissertation und sein Buch in der ersten Auflage schrieb.

Er hat dieses Modell noch um den Fall erweitert, der den aufsteigenden Flugpfad beschreibt (Wolkenstraßen). Das Ergebnis seiner theoretischen Überlegungen war das, was heute als Delphin-Theorie bezeichnet wird. Wenn man sich an diese Regeln hält, wird das gemeinhin als Delphin-Fliegen bezeichnet.

Nach Helmuts Theorieansatz ist der MacCready-Wert immer so einzustellen, dass er dem Anfangssteigen des nächsten Bartes entspricht - und der gegenwärtige Bart ist in der Höhe zu verlassen, in der sein mittleres Steigen unter den eingestellten MacCready-Wert fällt. Diese Regel gilt auch für möglicherweise aufsteigende Flugpfade unter Wolkenstraßen.

Ein Problem mit Helmuts Ansatz ist, dass er zu recht hohen MacCready-Werten führt, wenn ein Pilot gut zentrieren und kurbeln kann. Das macht die Flüge zwar schnell, bringt aber auch ein hohes Risiko für eine Außenlandung. Außerdem ist erfolgskritisch, dass du als Pilot im Anfassen eines Bartes sofort entscheiden musst, ob der es wert ist, zentriert zu werden oder nicht. Wenn du nach einem Probekreis erst weiter fliegst, verlässt du den engen Pfad der Optimierung. Und wenn du in einem starken Bart auslässt, ebenfalls.

In der Folge stellte sich heraus, dass viele gute Piloten nicht streng nach den MacCready-Werten flogen, die Helmuts Theorie vorgab. Ich hatte das Vergnügen, 1989 noch einen Offene-Klasse-Wettbewerb mit und gegen Helmut zu fliegen und ich bin überzeugt, er selbst ist auch nicht ganz strikt nach dieser Regel geflogen. Und das lag an der Risikoabwägung.

Mitte bis Ende der Neunziger Jahre wurde klar, dass auch eine Nichtgleichverteilung von Bärten (örtlich, in der Stärke) mit in die Rechnung mit einbezogen werden muss. Diese Randbedingungen lassen sich nicht mehr mit einem geschlossenen Modell erklären, sondern nur noch mit Simulationsrechnungen darstellen. Wir haben es hier mit einem Raum von Wahrscheinlichkeiten zu tun. Und so ist es kein Wunder, dass sich ein Segelflieger, für den Wahrscheinlichkeitsrechnung das täglich Brot ist, dieses Problems angenommen hat:
John Cochrane. Er ist Professor für Ökonomie an der Uni Chicago und beschäftigt sich mit den statistischen und stochastischen Verfahren zur Errechnung der Preise von Finanzprodukten. In dieser Eigenschaft ist er sogar ein sehr prominenter Vertreter der sog. Chicagoer Schule. Er weist in seinem Artikel "MacCready Theory with Uncertain Lift and Limited Altitude" nach, dass der MacCready-Wert in großer Höhe (ohne Absaufrisiko, mit viel Höhe zum Gleiten und Suchen) wie nach Reichmann hoch eingestellt werden muss, mit zunehmendem Misserfolg (keine Bärte dieser Güte gefunden) und schwindender Höhe (mehr Absaufrisiko, weniger Suchspielraum) kleiner werden muss, ab ungefähr halber Basishöhe auf 0,5 m/s sinkt und dort bleiben sollte. Dabei bleibt aber die Reichmann-Regel immer gültig: Jeder Bart, der gleich oder besser ist als die MacCready-Einstellung wird gekurbelt.

Selbstverständlich wird kurz vor dem Aufschlag alles gekurbelt, was ein Plus aufs Vario zaubert.

John Cochrane hat damit in der Simulation gezeigt, warum das fliegerische Verhalten von vielen Piloten, die nicht streng nach Reichmann'schen MacCready-Werten fliegen, statistisch erfolgreicher ist als das penible Festhalten an der Regel. Damit wurde ein jahrelanger Glaubenskrieg beendet. Heute ist allen bewusst, dass die MacCready-Einstellung eine rein taktische Wahl ist. Sie wird - mehr beim Überlandflug, weniger beim Endanflug - von der Einschätzung und den Wünschen des Piloten diktiert.

Es ist nicht mehr so, dass gelehrt wird: Wenn das Wetter so ist, dann MUSST du diesen und jenen MacCready-Wert fliegen, um schnell zu sein. Zwischen der reinen theoretischen Vorgabe und einer unteren (vernünftigen) Grenze von 0,5 m/s, in Grenzfällen sogar 0 m/s oder noch langsamer, ist alles möglich und zu gegebener Zeit auch sinnvoll.

Manchmal ist in großer Höhe schon absehbar, dass eine risikoreiche Strecke zu überwinden sein wird, dann ist es aus wettertaktischen Gründen sinnvoll, an der Basis zu bleiben. Da wird der Ring schon ganz oben auf einen niedrigen Wert gestellt (geringes Risiko). Das Flugzeug wird wie ein welkes Blatt bedient und mit dem relativ langsamen Flugzeug erfühlt man jede aufstrebende Energie in der Luft. Diese Technik heißt "Schwabbeln". Hier greift der "Vorsicht-Gedanke" von Cochrane schon in großen Höhen und oft ist diese Taktik die gesündeste, zumindest immer solange, wie für dich subjektiv die Wettersituation undurchsichtig und nicht gut einschätzbar bleibt. Übrigens: Das "Schwabbeln" wurde erst durch einen Beitrag von Kai Lindenberg in Reichmanns Buch in einer neueren Auflage eingefügt. Helmut selbst hat diese Technik nicht explizit beschrieben, aber, wie ich noch miterleben durfte, selbst ausgeführt.

 

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